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Der Langstreckenläufer zwischen dem gelebten Traum und dem geträumten Leben

Du wusstest nicht wieviele Stunden du den langen Flur mit den Lungenembolie-gelben Wänden, dem langen Holzgeländer aus dunk­lem Buchenholz, deren Halterung an einer Stelle seit langer Zeit herausgebrochen war und den Putz herausbröckeln ließ, schon entlanggegangen warst. Überhaupt hattest du das Gefühl weder zu sein noch nicht zu sein, wie beim Fahren in der Straßenbahn. Die Zeit dehnte sich aus, als stündest du in einer endlosen Warte­schlange, deren unzählige Augenblicke sich auspressen ließen wie Zitronen, um den abgestandenen, sauren Geschmack der Erinnerung hervorzubringen, den du täglich über diesen Flur schlepptest, der dich, wie ein schwarzes Loch der Zeit, verschluckte. Nur die Me­dikamentenausgabe am Morgen nach dem Aufstehen, bei der du wieder in einer Warteschlange standest, dann mittags um 12h 30 und schließlich lieh nach dem Abendessen, bei dem es jedesmal eine Suppe aus einer großen Metallterrine gab, vermittelten dir das Gefühl des Vergehens der Zeit und des wohl zurückgelegten Weges auf dem Flur. Trotzdem hattest du das Gefühl ein Stück Freiheit zu genießen, dich auf dem Flur, in deinem Zimmer, im Raucherraum, wo bereits vormittags die ganze Zeit der Fernseher lief, und im Speiseraum frei bewegen zu können, nachdem sie dich drei Wochen in einen kleinen Raum mit dicker, vergitterter Holztür, ohne Fenster, ausgestattet mit einem Bett aus einem Eisengittergestell mit harter Matratze und einem Nachttopf eingesperrt hatten.
Du wusstest auch immer noch nicht genau, warum du die Scheibe in der Kneipe eingeschlagen hattest, vor etwa drei Wochen jetzt. Ge­schrien hattest du, als sie versuchten dich festzuhalten. Ein Notarztwagen war gekommen. Männer in weißen Kitteln hatten dich eingeholt. Ein kräftiger Schwarzer hatte dich gepackt und auf dich eingeredet: "Calme-toi. Ne fais pas des betises. Nous voulons t'aider." Du hattest dich gewehrt wie ein verwundetes Tier, wut­schnaubend, verzweifelt und sie hatten dich zu Boden gerissen, deine Hose heruntergezerrt und dir eine Spritze in den Hintern ge­jagt. Du spürtest den tierisch, schmerzhaften Druck in deinem Hin­terteil, was dich nur noch wütender machte. Die Schultasche mit deinen Papieren der Uni, die du zuvor in der Hand gehalten hattest hatte sich geöffnet, so dass die Sachen jetzt verstreut herumlagen. "Mon sac, mon sac, donnez-moi mon sac", hattest du immer wieder geschrien. "Vous dechirez ma chemise!". Die Spritze musste wohl eine sehr hohe Dosis des Wirkstoffes enthalten haben, verspürtest du doch eine sofortige Lähmung deiner Glieder und was das Schlimmste war: Du warst zunehmend unfähiger zu sprechen. Als sie begannen dich auf eine Tragbahre zu legen und dich festzuschnallen über­kam dich eine panische Angst. Du versuchtest krampfhaft zu sprech­en, um ihnen alles zu erklären: Du seiest einfach ausgerastet, seiest verzweifelt, einsam gewesen, habest auf dich aufmerksam machen wollen, wollest niemanden etwas Böses und würdest den Scha­den selbstverständlich ersetzen. Aus deinem Mund kam jedoch nur ein abgehacktes Gestotter von Lauten, die deine Verzweiflung und Ohnmacht nur noch verstärkten. Der Krankenwagen fuhr jetzt mit Si­rene durch die Stadt, während der Schwarze versuchte beruhigend auf dich einzureden.
In der Klinik angekommen hatten sie dir alle deine Sachen abgenom­men, samt der Kleidungsstücke, die du am Leibe trugst, bis auf die Unterhose, und ein Inventar aufgestellt. Du befandest dich in einem zweistöckigen Betonbau in Kastenform mit Flachdach und feuchten Wänden, der Teil eines riesigen, abgezäunten Geländes außer­halb der Stadt Amiens war. Es bestand aus vielen Backsteinbauten in der Form eines ehemaligen Klosters, in deren Zentrum eine Kirche lag und welches dir in seiner Größe und Aufteilung, wie eine riesige Industrieanlage erschien. Eine Krankenschwester mit einer spitzen, feinen Nase und hoher, bestimmter Stimme, die so gar nicht zu ihrer zierlichen Gestalt zu passen schien, beäugte dich ausgiebig durch ihre dunkle, dicke Brille und gab dir einen blauen Pyjama, den du die nächste Zeit, wie alle Neuankömmlinge anbehalten solltest. Somit war die hierarchische Ordnung wieder hergestellt.
Man servierte dir ein aufgewärmtes Fertiggericht im Speisesaal und sperrte dich anschließend in jenen kleinen Raum ein, ohne Fenster, dagegen mit Bett und Nachttopf. Noch nie in deinem hattest du so stark das Gefühl gehabt lebendig begraben zu sein, vorm Tode zu stehen und du liefst in dem winzigen Raum hin und her in dich selbst und aus deiner dir noch verbleibenden Lebens­zeit verbannt. Du dachtest nicht an mögliche Fortgänge deines Le­bens. Dein Zustand glich dem eines mit sich selbst auf dem Trottoir zusammengestoßenen und zur Salzsäure erstarrten, in dessen Inneren die Moleküle nur umso panischer, verzweifelter umhersau­sten. Vor Jahren hatte ein Freund dir einmal von jener biblischen Geschichte erzählt und dich aufs innigste vor diesem Zustand ge­warnt. Drei Wochen bliebst du, wie dir später gesagt wurde in diesem Raum, mit kurzen Unterbrechungen, in denen man dich für eine Zigarettenlänge in den Raucherraum ließ.

Wir waren in ein großes Feuchtgebiet die "Horticulieres "in Longeau gefahren, mit dem Bus und hatten vorher eingekauft: Obst und et­was zu trinken. Voller Erwartung knutschten wir im Bus ganz hinten auf der Rücksitzbank, vergaßen alles um uns herum. Voller Spannung den richtigen Moment erwartend, gingen wir die engen Fußwege durch das hohe Gras, eine geschützte, freie Stelle suchend. Plötz­lich blieb ich einfach irgendwo, genau dort stehen, zog dich eng an mich, so dass ich deinen zarten, knochigen Körper zittern spür­te. Eng umschlungen glitten wir aneinander herunter und ich schob dir, mich auf dich legend, die Schulterträger deines Kleides herunter und küsste und streichelte deine kleinen, festen Brüste. Ich zog deine warmen Schenkel auseinander, die vor meiner und dei­ner Ungeduld zitterten und so weich schwebend wie Federn waren. Ich flutschte einfach in dich rein, wie ein Korken, der mit aller Kraft in die Flasche gesogen wird und glitt so langsam in deine Tiefe. Ich trieb im warmen Gras deiner Liebespforte, wie eine Seerose auf dem Wasser des Teiches schwimmend, in ihm verankert, zu ihm herun­tergezogen. Beim Orgasmus erleichterten wir uns um uns selbst, wie hinweggewehte Samen von einer Pusteblume, hafteten uns in das würzig, duftende Gras, trieben auf dem ruhigen Wasser des Sees. Ich ließ mich in den Teich fallen, schwamm im kühlenden Wasser und brach­te dir eine Seerose. Einige Zeit später schicktest du mir eine Karte mit dem Froschkönig.

All dies erinnertest du, während du in dem kleinen Raum auf und ab trabtest. Nach der ersten Woche brachte dir eine Freundin ein französisches Buch mit und du begannst alle dir fremden Vokabeln aus dem Wörterbuch herauszusuchen, wie du es in deiner Schul-und. Studienzeit getan hattest. Du schriebst die deutschen Wörter dies­mal neben und zwischen die Zeilen, anstatt sie wie früher in Kar­teikästen zu tun. Die dir am interessantesten erscheinenden Stellen unterstrichst du. Du hattest auf diese Weise das Gefühl einer Arbeit nachzugehen. Das Buch handelt von den seelischen Konflikten und Erlebnissen eines Malers. Wie der Maler in dem Buch, hattest auch du als du Es in dem Feuchtgebiet mit der siebzehnjährigen Schwedin getrieben hattest, von einer den Geist erfüllenden, rein körperlichen Liebe geträumt. Im Traum war dir Dies wohl nicht bewusst gewesen und jetzt warst du aus dem Traum aufgewacht. Ab und zu onaniertest du auf der Toilette und versuch­test jenen Traum nachzuerleben, was dir jedoch nur immer bruch­stückhafter letztendlich mißlang. Du versuchtest den Traum schrift­lich festzuhalten, doch er entglitt dir allzu oft und es ging dir wie jemanden, der auf einem fernen Stern gelebt hat, nun versucht sein Wesen zu eröffnen an einem ganz anderem Ort und dabei er­schreckt feststellen muss, dass er nur noch jenes erklären, beschreiben und erläutern kann, was er mit einem sehr starken, jedoch für sein voriges Empfinden völlig unzulänglichen, ja unsinnigen Fern­rohr sieht. So wie der Maler in dem Buch seine Unfähigkeit aus­drückt wahrhaftige Bilder zu malen, nicht nur Anstreicher von Färbflächen auf einer zuvor weißen Leinwand zu sein, so will es dir nicht gelingen ein wahrhafter Dichter und nicht bloß ein Literat zu sein.

Gleich war wieder Mittag und alle würden sich im Speisesaal ein­finden, um sich das viel zu fette und üppige Essen reinzuschieben, je­denfalls viel zu fett für deine Kondition. Du würdest wieder mit Pierre im Raucherraum Schach spielen, denn in ihm hattest du ei­nen Gegner, der wiederum die Züge seines Gegners im voraus berechnete. Auf diese Weise lernten wir uns hervorragend einander ken­nen, indem der eine sich im anderen erkannte oder überrascht wurde und so für ihn zum geistigen Abenteuer wurde. Außerdem konnten we­nige so gut Kreutzworträtsel lösen wie er, aufgrund des enormen Wissens was er sich angeeignet hatte. Die meisten wesentlichen Dinge empfand er intuitiv. Doch eigentlich war er auch ein ver- soffener Funktionär mit seinen ureigensten, skurilen Träumen und Vorstellungen von der Welt. So arbeitete er in der Strafvollzugs­anstalt in Paris als Chefbuchhalter und machte mit seinen Kolle­gen einmal so tierisch einen drauf, dass er nach dem Besuch diverser Nachtclubs, bei dem das Kondom noch über seinem Sonnenkönig ge­zogen war, des nachts fast über die Absperrung des Gefängnisgelän­des gestiegen wäre, und sie ihn wohl sicher als Flüchtenden eingefangen hätten, wäre er nicht von der falschen Seite gekommen.
Dies war nun auch wiederum eine Figur deines Traums. Dabei war es jener Pierre gewesen, der dir geholfen hatte dein erstes Theater­stück, welches du in der französischen Schweiz, in Lausanne ge­schrieben hattest, wo du längere Zeit in besetzten Häusern gewohnt hattest, in ein sauberes Französisch zu übersetzen. Nachdem du dein Studium aufgrund eines Nervenzusammenbruchs abge­brochen hattest, lerntest du den schweizer Anarchisten Bernhard kennen und fuhrst mit ihm in die französische Schweiz. Vorher schon hattest du begonnen alle deine dir wichtig erscheinenden Empfindungen und Gedanken auf ein Dictaphon zu bannen, wel­ches du ständig mit dir herumführtest. Es wurde gleichsam reinste Ausdrucksform in der Motivation der Vernunft Erkenntnis über die Ursache der Kausalzusammenhänge deines Verstandes zu erlangen, und die Art deines Erlebens metaphysisch zu deuten. Den Antrieb hierfür gab der existentielle Reiz des Willens deiner Existenz als Individuum unter anderen Individuen in der Welt Ausdruck und damit auch Form zu geben. Deine rein der subjektiven Vor­stellung gegenüberstehende Welt wurzelt jedoch selbst in jener stofflichen und geistigen Welt, findet sich nämlich in ihr als Individuum, d.h dein Erkennen, welches der bedingende Träger der ganzen Welt als Vorstellung ist, ist dennoch durchaus vermittelt durch einen Leib, dessen Affektionen, dem Verstande der Ausgangs­punkt der Anschauung jener Welt ist.

Nach dem schmerzhaften Abbruch deines Studiums hattest du eine große, katharsische Befreiung erlebt. In jeder Stadt in die du auf deinen Reisen in Italien und der französischen Schweiz kamst, hattest du Studenten gefragt, wie sie zu ihrem Studium stünden. Viele antworteten dir in dem Stil: "Wir gehen in die Vorlesungen um uns dort einmal richtig auszuschlafen" oder "Ich benötige das Diplom für den Beruf, den ich ergreifen will."
Manche suchten in der Uni wohl nur einen Ort der masochistischen Peinigung, um die Zeit totzuschlagen, die Leere zu füllen und sich im Opportunismus und der fast totalen Anpassung mit ihren Ängsten und Schuldgefühlen, die sich in der Außenwelt wiederspiegelten, zu ergeben. Andere lebten ganz eingenommen in jenem rationalen Funktionalismus, der als reine Form ohne Inhalt gänzlich bedeu­tungslos und sinnlos ist. Hiervon hatte dich der völlige Zusammen­bruch, ein katharsischer Wutausbruch letztendlich befreit. Rousseau's "Emile" lesend, jene trockene Narretei über die Kindererziehung, von jemandem geschrieben, der seine eigenen Kinder ins Waisenhaus gesteckt hatte, sein Gedankengut als Anlass für dein erstes Theaterstück für die vierjährige Sarah als Puppentheater zum bevorstehenden Weihnachtsfest schreibend, saßt du in der Bib­liothek der Uni von Lausanne und schautest auf den prachtvollen Genfer See, umrahmt von hohen Felsmassiven. Du hattest das über­wältigende Gefühl mit den Naturgewalten und Gesetzen völlig all-ein zu sein. Da warst du, Rousseau's "Emile" als ein historisches Do­kument, der Genfer See, dein Theaterstück, das besetzte Haus mit besagter Sarah, indem du nun eine Zeitlang wohntest, jede Menge völlig ruhig und still am Tisch sitzende, schreibende und lesen­de Studenten, unter denen du dich als Sonderling doch ebenso ver­traut fühltest. Und dann die Bücher und der blaue, fast trans­parente Winterhimmel, bedeckt mit wie Windjammern vor sich hinziehenden Kumuluswolken, die die verrücktesten Figuren deiner Fan­tasie vorgaukelten: Ein Pferdekopf da, ein Elefant auf einem Tisch sitzend dort usw.
In der Klinik warst du einsam, eine Empfindung des Alleinseins gänzlich entgegen gesetzte. Hier warst du umgeben von Zeichen, von den Hieroglyphen einer künstlichen, retortenhaften Sprache, die du entweder gar nicht, oder nur manchmal bruchstückhaft meintest ent­ziffern zu können, um ihre Wahrheit zu erkennen. Hier in der Klinik lebtest du in der Realität deiner Wege aus Langeweile zur Toilette dann am Dienstzimmer vorbei, wo das Geplänkel der Schwestern dich erwartete und schließlich in den Speiseraum mit dem an seinem Tischsitzenden, hinterseiner dunklen Sonnenbrille vor sich hin philosophierenden Jacques dich erwartete: " Die Anarchie trägt keine Fahne." Das wöchentliche Großereignis für alle Patienten war die Visite des Stationsarztes, bei dessen Erscheinen sich alle gespannt ums Dienstzimmer versammelten.

Die dunkelbraunen Augen einer jungen Spanierin erschienen dir im Dorf Tejeda auf Gran Canaria, stolzen Schrittes frühmorgens durch die leeren Straßen zur Schule marschierend. "Rette mich nicht sterben in der Stille die in mir schreit, hier in dem Land meiner Seele, das mir so fremd ist. Erzähl mir vom Stierkampf und Flamenco, von den Vulkanen, fang meine Tränen auf und vergebe mir mein Schweigen des Misstrauens, des Zweifels, des Nicht-mehr wollens", sprachst du zu ihnen. Ein Jahr später solltest du sie wiederfinden, diese Augen jener Frau, einer Deutschen diesmal. Die Verständigung mit ihr über ihren und deinen Traum erwies sich als äußerst schmerzhaft, langatmig und schwierig und doch immer wieder vorläufig auf Anhieb möglich. Mit dem Vorläufigen musst du wohl leben, dachtest du, so das Leben selbst nur ein vorläufiges Sta­dium zum Tode darstellt. Du wünschtest dir dem Tode dabei so zu begegnen wie einem alten wohlbekannten und doch fremdartigen Freund, den man ganz streng genommen noch nie gesehen, jedoch in irgendeiner Weise der Sinne fühlt ihn gut zu kennen und erwartet. Es blieb der schneidende quälende Unterschied des Zweifels deines Verstandes, dessen Bedingung eben jenes gewusste Nichtwissen in sich barg .
Du bliebst oft lange des morgens im Bett liegen, einfach um nach­zudenken, dein Innerstes erst in Ordnung bringen wollend, um wie­der fähig zu sein, so meintest du, mit der Außenwelt in Einklang Kontakt aufnehmen zu können.
Etwa in ganzer Einfalt so: "Guten Tag, ich bin Schriftsteller und interessiere mich sehr für Menschen. Darf ich ihnen ein paar Fra­gen stellen?"
Du kamst dir vor, wie ein Marketingforscher deiner selbst. Welchen Marktwert man dir wohl geben werde? In der Ethik warst du seit eher rein materialistisch, nur der Geist bedeutete für dich die Freiheit. Da erinnerst du dich eines Märchens mit dem Titel: "Der kleine Nagel", welches dein Vater einmal in seiner frühen Jugend geschrieben hatte: Ein kleiner Nagel wurde von seinem Vater der ein Hammer war und eine Beißzange geheiratet hatte, dazu erzogen tagsüber das Strammstehen zu lernen, damit er eines Tages ein guter, brauch­barer Nagel werde. Jeden Tag ging der Vater morgens zur Arbeit und ließ den kleinen Nagel mit seiner Mutter zu Hause allein. In dem kleinen Nagel begann so dann allmählich der Stolz auf die gehorsame Vernunft stramm zu stehen, um sich dem Vater gegenüber eines Tages als ein braver, guter, brauchbarer Nagel zu erweisen und dem Ruf seines Herzens nach dem Erlassen seines Leidens in Gestalt seiner Mutter, einer Art göttlichen Vergebung miteinander zu streiten. Irgendetwas in seinem Wesen widerstrebte diesem Zustand des not­wendigen Leidens beim Strammstehen im Holz und so siegte mal der väterliche, mal der mütterliche Pol, genauso wie sie beide in letzter Konsequenz verloren... So ließ ihn seine Mutter auf dem Stuhl oft solange zwischendurch ausruhen, bis kurz bevor sein Vater nach Hause kam. Eines Tages jedoch blieb die Küchenuhr stehen. Der Vater jedoch kam zur rechten Stunde und sah seinen Sohn sich von der teuflischen Mutter verführt auf dem Stuhle fletzen. Da packte ihn so sehr die Wut eines um alles Betrogenen, dass er seinem Sohn unter dessen lautem Schreien und unter dem Wehklagen der Mutter, auf den Kopf schlug.
Der kleine Nagel hatte sich zu etwas Halbrunden, etwas seinem ur­sprünglichen Zweck, seiner Bestimmung der Schöpfung scheinbar voll­ständig enthobenen entwickelt, dass der göttliche Vater Erbarmen mit sich und ihnen hatte, ihnen Angesicht zu Angesicht gegenübertrat und den kleinen Nagel zum Kleiderhaken erklärte und den Vater zum Schöpfer des Kleiderhakens. So lebten sie von diesem Moment an in Frieden miteinander.
Doch dies war ein Märchen, ein Traum der in dir lebendig war und selbst in deinen sehr engen vier Wänden nach Atem rang. Du hattest es zuvor nur nicht gewusst.
Leo Ferre hatte einmal und immer wieder gesungen, bezogen au alle möglichen Lagen seines Lebens: Je suis un chien. Ich bin ein Hund. Mal wache ich auf meinen Herrn, mal belle ich, mal beiße ich, um ihn oder mich zu verteidigen und mal lasse ich mich kraulen. Warst du vielleicht jener Kleiderhaken, der seine Geschichte er­zählte? Hattest du nicht dein Leben lang bei den verschiedensten Leuten gedient, warst ein Kammerdiener gewesen, zu Gast in ihrem Kleiderschrank und niemand wollte dir tatsächlich ans Leben, konnte doch jeder einen Kleiderhaken gebrauchen?! So bliebest du was du warst und du hattest die Idee irgendwann still auszuklingen wie Beethoven's "Mondscheinsonate" oder ein Song von Nick Drake "When the day is done", irgendwann ein Relikt zu sein aus einer längst vergangenen Zeit.
Doch wo war die Idee für deine Geschichte? Lag sie in der Suche nach dem Erkenntnisverfahren des Subjekts bei denen seine Ideen den empirischen Sinneserfahrungen entspringen und diese Ideen das Sub­jekt, das Individuum objektivieren, es gleichsetzen dem Objekt, dem allgemeinen, universellen? Als ständen Subjekt und Objekt ohne jede Verbindung empirischer Erfahrung in Raum, Zeit und Kausalität unabhängig nebeneinander, das eine sich spiegelnd im Willen an sich zur Idee, zur Vorstellung. So bliebest du als Subjekt ein nicht de­finierbares. Oder warst du ein Schriftsteller, Landschaftsgärtner, teilnahmsloser Beobachter, psychisch Kranker, Student etc. Die Liste wäre so lang ,wie die ihr innewohnende Abstraktionsmöglich­keit des Subjekts selbst, ja der letzte alles umfassende Begriff ein Wort deiner Worte in allen deinen Worten du bist. Du warst gestern den Blues bei deinem Freund Heiner spielend, trom­melnd wie ein Wilder im Versuch alles quälende in dir loszulassen, bis zum Untergang der Sonne, die unsere Gedanken verkürzt und sie schließlich in einem Punkt der Ewigkeit zum Traum transzendiert. Du warst Jim Morrisson, eine Platte auflegend: "In this world we thrown" and the world is thrown in us. Wie ein Samen. Du warst aus einem Song von Nick Drake, wiederum ein nach- und vorläufiges einer Idee, die sich hier als die angekündigte Idee vom vermeintlichen Schluss einfügte, einfügt, einfügen wird:
Das Das wohl berühmteste an einem Obstbaum, jedoch am wenigsten be­sungene ist wohl, dass er niemals blüht bevor nicht sein Stamm in der Erde ist." Du warst ein Baum, ein Philosoph,du warst lebendig wurzelnd im Geiste Schopenhauer's, Kafka's Dostoijevski's, deinem Hund Bonnie, deinem Freund Houcine, dem Boudhisten in deiner Stadt, dem Klang deiner Gitarre in der Es spielte. Die Nächte erschienen dir dann manchmal lang, dass Süße machte dich nicht mehr satt und es schien dir als brauchtest du niemanden mehr zu treffen und du fühltest, dass du älter wurdest. Du hattest nicht die Dinge getan, die du beabsichtigt hattest zu tun. Nun war der Tag gegangen mit allem Verlorenem und Gewonnenem. Die Spiele waren gekämpft worden. Du hattest schneller verloren als du gedacht hattest und es gab keine Zeit mehr noch mal neu anzufangen, nun da der Tag vorüber war und die Nacht kalt war. Mit der Zeit ging die Erinnerung an den Tag, ging die Nacht, gingen diese deine Gedanken. Es ging und verschwand irgendwo in dem Strom der Dinge und hörte dich und du sie noch eine Zeit lang lauschen, bis auch das verschwand.
Du stecktest dir eine Zigarette an, wohl jenes Relikt der Friedens­pfeife der Indianer oder der Inkas in der modernen Zeit zum scheinbar bedeutungslosem Massenprodukt geworden und betrachtetes den ausgeblasenen Rauch, der sich im Nichts auflöste und dem all dies geschriebene sicher absolut nichts galt, indem du versucht hattest Orte zu betreten, ohne durch diese Orte zu sein, Begriffe zu geben von Ideen, von Sinnlichkeit?? ,- nutzloser Erklärungen, die eine Erklärung forderten und so fort, die da anfangen musste, wo du auf­hörtest zu sprechen. Es sprach ohne Pronomen und Präposition und wie bei jemanden der jemand zuschreit:„Hör auf zu schreien!" und der zurückschreit: "Du schreist! So ist es mit dem Wesen der Sprache, die nur aus dem Schweigen entstehen, wie nur mit ihm enden kann.

"Der Langstreckenläufer zwischen dem gelebten Traum und dem geträumten Leben" © Thomas Hecht (08/95)

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